Querschnittsdimension B: Menschenrechte und Autonomie

In der klassischen differenzierungstheoretischen Perspektive, die abstrakte Funktionsbereiche und ihre jeweiligen Verhältnisse in den Vordergrund stellt, rückt der „Mensch“ in systematischer Weise in den Hintergrund. Menschenrechte suchen nun gerade, diesen vor Übergriffen insbesondere der Politik und der Wirtschaft zu schützen – etwa der Infragestellung von Grundrechten durch autoritäre Regime oder entmenschlichenden Praktiken im Rahmen ökonomischen Profitstrebens. Andererseits sind diese Menschenrechte nicht nur in ihren philosophischen Grundlagen, sondern gerade selbst in ihrem Rechtscharakter hochgradig umstritten und möglicherweise eher als Hybride zwischen Recht, politischer Programmatik und Moral zu deuten, in denen sich die Spannung von Universalismus und Partikularismus kristallisiert. Menschenrechte lassen sich daher nicht im Sinne eines eigenen Rechtsgebietes behandeln, sondern sie liegen gewissermaßen quer zu diesen und berühren wesentliche Fragen des Leitbildes der Person in der rechtlich verfassten Gemeinschaft, politischer Partizipation, ökonomischer Sicherheiten und der Verteilungsgerechtigkeit sowie der Gemeinschaftsbildung.
Menschenrechte transportieren gewachsene gesellschaftliche Leitvorstellungen, etwa mit dem Schutz der Glaubensfreiheit oder der Anerkennung indigener Rechte. Zugleich gehört die Berufung auf Kultur zum argumentativen Arsenal einer Lockerung menschenrechtlicher Bindungen. Wie aber geht ein Verständnis von Recht als Kultur damit um, dass Menschenrechte auch „im Namen der Kultur“ relativiert werden, auch wenn eine philosophisch gültige Begründung im Sinne einer materialen Ethik oder einer universalen Geltung der Werte bezweifelt wird? Haben am Ende diejenigen Juristen recht, die Menschenrechtsdebatten für rechtsdogmatisch völlig uninteressant halten, solange nicht die politische Frage der Implementation gelöst ist? Werden wir nicht letztlich immer wieder auf das ‚nackte (Über-)Leben‘ und ein gemeinschaftsgebundenes „Recht auf Rechte“ (H. Arendt) in einen staatsbürgerlichen Kontext „zurückgeschleudert“, und führt die Durkheimʼsche These der Sakralität der Person aus dem Dilemma einer religiösen Begründungsstrategie heraus, die sich mit der Vielfalt religiöser Orientierungen in der globalen Moderne kulturalistischen Relativierungen universal gedachter Geltungsansprüche aussetzt? Welche Rolle spielt die Herleitung von Menschenrechten aus einer Erfahrung des Leidens (U. Baxi), und inwieweit können wir dem Leiden als emotiver Grundlage der Menschenrechte trauen, das zugleich ein ‚Mit-Leiden‘ involviert, ein Thema, mit dem sich die Namenspatronin der Kollegs systematisch befasst hat? Die Flüchtlingskrise bietet Europa eine Gelegenheit, Mitleid im Kontext der Menschenrechte neu zu definieren. In dieser Krise treten die Verbindungen zwischen Ökonomie, Kultur, Politik und Mitleid in den Mittelpunkt, woraus nicht nur eine neue Ethik, sondern auch eine neue Menschenrechtspraxis entstehen kann.
Mit der Frage nach dem Personenbild im Spannungsfeld von Einzelnem und Gemeinschaft und vor dem Hintergrund einer Konkurrenz sozialer Felder und normativer Ordnungen gerät mit „Autonomie“ ein vielschichtiger ideengeschichtlicher Grundbegriff in den Blick. In der griechischen Antike war mit „Autonomie“ der politische Ruf nach einer Selbstbestimmung der Stadtstaaten ohne Einmischung äußerer Mächte verbunden, während der Begriff mit Kant zum Schlüsselkonzept der Aufklärungsphilosophie wurde, als er die moralische Gesetzgebungsfähigkeit der vernünftigen Person bezeichnete, die gleichzeitig ihr Recht auf Achtung begründet. Im Rahmen der Menschenrechtsthematik verschränken sich die politischen, philosophischen und juristischen Facetten der Autonomieproblematik, wobei auf anderer Ebene die differenzierungstheoretische Perspektive die Frage nach dem autonomen Schutz der rechtlichen Sphäre vor konkurrierenden Geltungsansprüchen aufwirft.    
Autonomie und Selbstbestimmung werden als Grundlage moderner konstitutionalisierter Rechtsstaaten angesehen und gewährleistet. Auch jenseits der Nationalstaaten werden Autonomiepostulate grund- und menschenrechtlich, insbesondere durch die EMRK, aber auch auf internationaler Ebene etwa durch UN-Konventionen abgesichert. Innerhalb der Europäischen Union garantieren die Grundfreiheiten grenzüberschreitend Rechte, die territorialen Grenzen die Relevanz für privatautonome Entscheidungen nehmen sollen. Mittlerweile weit über die wirtschaftliche Integration hinaus in andere Politikbereiche eingreifend zielen sie auf Etablierung einer supranationalen Rechtsordnung, die die Grundbedingungen einer Autonomie verbürgenden europäischen Rechtskultur als bedeutsames Forschungsfeld erscheinen lassen.
Zentraler Ausdruck der Privatautonomie ist die im nationalen und supranationalen Recht als Parteiautonomie verankerte Freiheit der Rechtswahl, die nicht nur im Bereich wirtschaftsrechtlicher Beziehungen, sondern zunehmend auch in familien- und erbrechtlichen Fragen gewährt wird. Ihre Grenzen zieht der ordre public des Forumstaates als klassisches Einfallstor der Grund- und Menschenrechte, der etwa der Scheidung durch talaq oder dem Selbstloskauf islamisch oder jüdisch geprägten Rechts entgegenstehen kann. Vor Schiedsgerichten sind Parteien traditionell nicht auf die Wahl staatlichen Rechts beschränkt, sodass religiöses Recht auch jenseits staatlichen Anwendungsbefehls gewählt und in der Folge staatlicherseits durchgesetzt werden kann. Mit Blick auf Rechtskulturkonflikte bedarf die zunehmend auch in familienrechtlichen Streitigkeiten verbreitete Anwendung religiösen Rechts durch Schiedsgerichte der besonderen Beobachtung, um das Spannungsverhältnis von Religionsfreiheit, individueller Autonomie, kultureller Identität und Frauenrechten auszuloten und im Dialog der Disziplinen Fragen der Legitimation und Akzeptanz nachzugehen. Bei all diesen aktuellen Konfliktfällen zeigt sich, dass nicht nur persönliche Autonomie kulturell verschieden codiert ist, sondern dass die jeweilige Konkretisierung von Grundrechten davon abhängt, ob Autonomie vom Individuum oder aber der Gemeinschaft her gedacht wird.
Autonomie wird in den unterschiedlichsten Bereichen zur Geltung gebracht, die hier nur exemplarisch genannt werden. Privatautonomie wird als Grundpfeiler des Privatrechts, in verschiedenen Rechten und Rechtskulturen in unterschiedlichem Maße, gewährleistet und mit der Testierfreiheit auch über den Tod hinaus garantiert: Mit der Patientenautonomie sind die Verfügbarkeit des eigenen Körpers und Lebens und die rechtskulturell geprägten Grenzen der Sterbehilfe angesprochen. Selbstbestimmung manifestiert sich zudem auch als reproduktive Autonomie, und schließlich erstreckt sich die Autonomie der Person in jüngerer Zeit auch auf die geschlechtliche und sexuelle Identität. In der Familie ist Autonomie in erster Linie mit der Emanzipation der Frau verknüpft, wobei auf nationaler und internationaler Ebene zunehmend auch Kinderrechte grund- und menschenrechtlich geschützt werden. Aber auch die Rechte älterer Menschen sowie die Behinderter und Kranker stellen ein Feld dar, dessen rechtskulturelle Dimension im Rahmen des The¬menschwerpunkts „Recht und Gemeinschaft“ zu beleuchten ist.